Mittlerweile sind einige neuere Entwicklungen zum Fall der JVA Gablingen bekannt geworden und sollen hier kommentiert werden. Zwischenzeitlich ist die Liste der in den Medien erhobenen Vorwürfe (v.a. Augsburger Allgemeine und Bayerischer Rundfunk) länger geworden bzw. wurde konkretisiert. Neuerdings wird auch in einem ähnlichen Fall in der JVA Nürnberg ermittelt (Nürnberger Nachrichten . Abendzeitung). Ich wurde von „kontrovers“, BR und von „Kontraste“, ARD/RBB interviewt.
Die Vorwürfe
1. Die besonders gesicherten Hafträume (bgH) sollen zweckentfremdet worden sein, d.h. Gefangene seien ohne den gesetzlichen Grund, der dies gestattet, dort untergebracht worden, etwa um sie zu disziplinieren.
2. Gefangene sollen zu lange dort untergebracht worden sein, bis zu drei Wochen, die Voraussetzungen hätten zwar zu Beginn der Unterbringung vorgelegen, später aber nicht mehr.
3. Gefangene seien gezwungen gewesen ohne Unterlage auf dem Betonboden zu übernachten, was Verletzungen in Form von Hämatomen verursacht habe.
4. Gefangene hätten weder schamschützende Unterwäsche noch Toilettenpapier erhalten.
5. Gefangene hätten über längere Zeit keine Möglichkeit zur Körperhygiene erhalten.
6. Gefangene seien (über längere Zeit) in Dunkelhaft, also ohne ausreichende Beleuchtung in bgH eingesperrt worden.
7. Gefangene seien bei dem Verbringen in den bgH unverhältnismäßiger Gewalt ausgesetzt gewesen, Faustschläge und Tritte (möglicherweise durch Bedienstete einer so genannten Sicherheitsgruppe, „SIG“).
8. Gefangene in psychischen Ausnahmesituationen seien in bgH untergebracht worden und hätten dort nicht die notwendige psychologische Unterstützung erhalten, so dass sie sich durch Rennen gegen die Wand selbst verletzt hätten.
9. Gefangene mit blutenden Wunden seien nicht angemessen medizinisch versorgt worden.
10. Bedienstete der JVA hätten vor der Überprüfung durch die Nationale Stelle zur Verhütung der Folter die bgH kurzfristig in einen rechtskonformen Zustand versetzt.
11. Bedienstete der JVA sollen vor der ersten bzw. zwischen der ersten und zweiten Durchsuchung Beweismittel (Akten) vernichtet haben.
Ob und welche Vorwürfe sich letztlich als zutreffend erweisen und wie ein Gericht die Sache einschätzt, wissen wir noch nicht.
Der Justizminister und sein Amtsleiter
Justizminister Eisenreich sagt weiterhin, er sei im Oktober 2023 nicht über die Vorwürfe der Anstaltsärztin informiert worden. Allerdings wusste wohl sein Amtsleiter Bescheid über die E-Mail der Ärztin und hat dann veranlasst, die Sache an die StA Augsburg weiterzugeben. Warum die Angelegenheit für ihn nicht so dringlich schien, dass er glaubte den Minister informieren zu müssen, ergibt sich möglicherweise aus dem verbreiteteten Online-Kommentar zum bayerischen Strafvollzugsgesetz (Beck-Online), verfasst von eben diesem Amtsleiter. Anders als in der Kommentierung der gleichlautenden Vorschriften zu den besonderen Sicherungsmaßnahmen in anderen Strafvollzugsgesetzen wird in diesem Kommentar tendenziell eher die behördliche Sichtweise vertreten und es werden der Praxis kaum Grenzen aufgezeigt: Weder die Dauer der Unterbringung in bgH, noch die Versagung der Freistunde, noch die Entziehung jeglicher Gegenstände einschließlich der Papierunterwäsche wird in diesem Kommentar als problematisch angesehen. Die entsprechenden Bedenken aus (europäisch-)menschenrechtlicher oder grundrechtlicher Sicht finden kaum Erwähnung. Daher mochten die damals und jetzt erhobenen Vorwürfe dem Amtsleiter im Justizministerium weniger schwerwiegend erschienen sein als es jetzt der Justizminister mit angemessener Betroffenheit schildert. Die Vorgänge, die die Ärztin (wie auch jetzt die Medienöffentlichkeit) als skandalös und folternah beschreibt, wurden im Justizministerium bzw. von der StA Augsburg zunächst – möglicherweise mit Blick auf eben diesen Kommentar – für nicht derart gravierend erachtet, dass man den Minister glaubte informieren zu müssen bzw. zureichende Anhaltspunkte für strafbare Handlungen sah.
Ein „Bauernopfer“?
Die StA Augsburg ist nun mit der „rückhaltlosen“ Aufklärung der Vorfälle betraut und es wird mittlerweile gegen 16 Beschuldigte einschließlich der stellvertretenden Anstaltsleiterin ermittelt. Ihre drei Strafverteidiger beklagten in einer Pressekonferenz, sie solle zum „Sündenbock“ bzw. „Bauernopfer“ gemacht werden. Was man allerdings kriminologisch beobachten kann, und insofern ist der Verteidigung Recht zu geben, ist der Versuch einer Verantwortungsverschiebung in der Hierarchiepyramide, die hier vom Justizminister an der Spitze bis hinunter zu einzelnen Vollzugsbediensteten reicht. Momentan – auch angesichts der ja noch laufenden Ermittlungen – ist es noch nicht gelungen, einzelnen Vollzugsbediensteten die (alleinige) Verantwortung zuzuschreiben. Nach wie vor steht die stellv. Anstaltsleiterin, die faktisch in der betreffenden Zeit die Dienstgeschäfte der Anstalt führte, im Verdacht, von einer nicht rechtskonformen Behandlung der Gefangenen in den bgH gewusst bzw. insofern ihre Aufsichtspflicht verletzt zu haben. Ein „Bauernopfer“ wäre sie aber als Vorgesetzte der unmittelbar ausführenden Bediensteten nicht. Die Verteidiger beklagen auch, die Aufsichtsbehörde bzw. das Justizministerium schütze ihre Mandantin nicht und vernachlässige insofern die Fürsorgepflicht. Aber ist das tatsächlich ein triftiger Einwand, nachdem Aufsichtsbehörde und Staatsanwaltschaft sich m.E. ein Jahr lang zuviel Fürsorgepflicht geleistet haben? Und die Fürsorgepflicht für die Gefangenen eher noch wichtiger erscheint?
Die ermittelnde Staatsanwaltschaft
Bleibt eine weitere Frage, zu der ich u.a. in einem Interview der ARD (Zusammenarbeit von BR „kontrovers“ und RBB „Kontraste“) am vergangenen Dienstag befragt wurde:
Ist es sinnvoll, dass die Staatsanwaltschaft Augsburg nun die Ermittlungen der JVA Gablingen führt? Da ich der Ansicht bin, dass die E-Mail der Anstaltsärztin vom Oktober 2023, also vor einem Jahr, schon zureichende Anhaltspunkte für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ergab, hielte ich es für angemessen, jetzt eine andere StA mit den Ermittlungen zu betrauen. Allein der Anschein, dieselbe Staatsanwaltschaft habe im Oktober 2023 gegen ihre Ermittlungspflicht verstoßen, kann nunmehr Grund sein für eine Besorgnis der Befangenheit in der Öffentlichkeit. Z.B. könnten Beweismittel, die auch schon vor einem Jahr hätten ermittelt werden können, in einem anderen Licht bewertet werden, damit evtl. Fehler nicht eingeräumt werden müssen. Anders als der Justizminister auf Journalistenanfrage mitteilte, ist dies nicht allein eine Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft. Nach § 147 Nr.2 GVG kann vielmehr der Justizminister selbst entscheiden. Er hat es in der Hand, auch in diesem Punkt Rückhaltlosigkeit zu beweisen.
Update (30.11.2024)
Inzwischen wird laut Bericht des BR auch gegen die Anstaltsleiterin ermittelt. Es fanden wohl Durchsuchungen bei ihr statt. Ich sehe meine Einschätzung von vor vier Wochen, dass man schon im Oktober 2023, nach Eingang der E-Mail der Anstaltsärztin, die gesamte Anstaltsleitung hätte (fürsorglich) suspendieren müssen, bestätigt.
Für Ermittlungen gegen Amtsträger in Ausübung ihres Amtes werden bei den Staatsanwaltschaften eigens dafür eingerichtete Dezernate geführt. In Hamburg soll dieses Dezernat dem Vernehmen nach sogar über eigenes Budget verfügen, um die „Unabhängigkeit“ der Ermittlungen zu garantieren. Wie das im Detail funktionieren soll, geht über meine Vorstellungskraft. Wenn es aber schon dazu beitragen kann, dass schleppende Ermittlungen jedenfalls nicht auf mangelndes Personal zurückgeführt werden können, dann ist das auf jeden Fall eine gute Sache.
Als abschreckendes Beispiel denke ich dabei zurück an ein Sonderdezernat, das die STA Köln Ende der 70er eingerichtet hatte, nachdem sie einen Hehlerring gesprengt hatte – etwa 2000 Verdächtige. Mit den Ermittlungen wurde der damals noch junge StA Egbert Bülles betraut. Der Verwaltung ist jedoch nicht gelungen, ihm eine erfahrene Fachkraft dauerhaft zur Seite zu stellen, um den Geschäftsbetrieb dieses Dezernats am Laufen zu halten. Die Geschäftsstelle bot ein grauenhaftes Bild, das man selbst bei Kafkas Inszenierung für leicht überzogen hätte halten können. Das Dezernat ist schließlich abgesoffen und die Verfahren mussten wegen Verjährung eingestellt werden.
Wenn ein Dezernat für Verfahren gegen Amtsträger ähnlich eingerichtet und organisiert sein sollte, dann kann man das Ergebnis leicht vorhersehen.
Danke für Ihre Hinweise, Herr Kolos. Dass es in Staatsanwaltschaften regelmäßig oder gar überall entsprechende Dezernate gibt, wusste ich bisher nicht. Auch nicht, ob dies in Augsburg der Fall ist oder ob die Dezernatszuständigkeit innerhalb Augsburgs von Oktober 2023 auf Oktober 2024 gewechselt hat. Aber auch wenn jetzt ein spezielleres oder anderes Dezernat die Ermittlungen führt als noch im Jahr 2023, würde ich dabei bleiben, dass es zumindest „ungeschickt“ ist, die Sache nicht an einen anderen Ort abzugeben. Es ist nun einmal rein menschlich äußerst problematisch, Ermittlungen zu führen, bei denen man evtl. auf Fehleinschätzungen der Kolleg-inn-en oder gar Freunde/Freundinnen stoßen könnte.
Evtl. Fehleinschätzungen der Kolleg-inn-en oder gar Freunde/Freundinnen scheinen aber nicht das einzige Problem zu sein. Auch an einem anderen Ort werden die Ermittlungen sich mit der Kommentierung des bayerischen Strafvollzugsgesetzes auseinandersetzen müssen, die der Amtsleiter im Justizministerium verfasst hatte. Sie wird bei einer Überprüfung im Lichte der Verfassung und der Rechtsprechung des BVerfG eine Menge Kritik einstecken müssen. Werden sich die Ermittler, wo auch immer, das trauen? Es ist eine große und nicht gänzlich risikolose Herausforderung.