Mir wurden vor Kurzem von einer Journalistin einige Fragen zum Zusammenhang zwischen „objektiver Kriminalität“ und Sicherheitsgefühl gestellt. Meine Antworten dazu will ich hier wiedergeben, die Originalfragen der Journalistin habe ich dazu etwas umformuliert, ohne sie inhaltlich zu verändern.

Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen dem subjektiven Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung einerseits und objektiven Zahlen zur Kriminalität andererseits erklären?

a) Menschen haben zwar eine gute Einschätzung über aktuelle Bedrohungen (was wird mir in den nächsten Sekunden passieren), aber keine gute Einschätzung über statistische Bedrohungen. Das zeigt sich bei Gefahreneinschätzungen aller Art (Straßenverkehr/Flugverkehr/Haushaltsunfälle/Krankheiten/Risiken beim Sport etc.). Hier kommt es schon außerhalb der Kriminalitätswahrnehmung zu krassen Fehleinschätzungen hinsichtlich der jeweiligen Risiken. Das Risiko der allgemeinen (Gewalt-)Kriminalität wird in Deutschland generell überschätzt. Unterschätzt wird das Risiko, durch eigene Partner oder Familienangehörige verletzt oder getötet zu werden. Allgemein gilt wohl: Je näher das Risiko, desto geringer wird es eingeschätzt. Die Ursachen für Unsicherheit liegen (neben den weiter unten beantworteten Fragen) auch in allgemeiner Unsicherheit hinsichtlich diverser Zukunftsfragen (Wirtschaft, Krieg, Klima, Rechtsextremismus, eigenes Alter), die dann auf das Sicherheitsgefühl bezüglich Kriminalität projiziert werden.

b) Es gibt nur wenige wirklich „objektive“ Daten zur Kriminalität, da das meiste im Dunkelfeld verbleibt. Auch die Polizeilichen Kriminalstatistiken bilden ja nicht die objektive Lage ab, sondern sind im Wesentlichen gesteuert vom Anzeigeverhalten der Bevölkerung, das wiederum u.a. (mit-)gesteuert ist von Gefühlen.

Welche Rolle spielen die Medien bei ihrer Darstellung von Gewaltdelikten für das Sicherheitsgefühl?

a) Über Kriminalität wird weit überproportional berichtet, und je seltener und ungewöhnlicher ein Delikt ist, desto häufiger und intensiver wird darüber berichtet. Dadurch wird die allgemeine Tendenz des Menschen zu Fehleinschätzungen hinsichtlich Statistiken noch einmal verstärkt. Zudem ist auch im fiktionalen Medienbereich (Bücher, Filme, Podcasts …) „Crime“ das Hauptthema. „True Crime“ und Mischformate (Doku-Fiktion) sind besonders beliebt, beeinflussen aber durch ihre Dramatisierung auch das Sicherheitsgefühl in besonderer Weise.

b) Über „objektive“ Daten, wenn sie denn einmal vorliegen, wird wenig bis gar nicht (!) berichtet. Auch wenn über zehn Jahre und länger die Polizeiliche Kriminalstatistik nach unten zeigt, wird darüber viel weniger oder gar nicht berichtet. Dunkelfeldstudien sind eben viel uninteressanter/langweiliger als Daten aus Polizeistatistiken, die von den Polizeipräsidien und Ministerien verbreitet werden. Über den dramatischen Rückgang der Jugendkriminalität ab Mitte der 1990er Jahre wissen die Menschen nichts, weil darüber wenig berichtet wurde. Über den Anstieg seit der Pandemie wird (beinahe) der Notstand ausgerufen, obwohl die Zahlen immer noch geringer sind als in den meisten Jahren der letzten drei Jahrzehnte.

Können medienpräsente Gewalttaten Nachahmungseffekte auslösen? Gibt es dafür empirische Hinweise? Wodurch werden solche Dynamiken begünstigt?

a) Ja

b) Sobald einzelne Delikte so außergewöhnlich sind, dass intensiv über sie berichtet wird, werden Menschen, die gefährdet bzw. motiviert sind, öffentlichkeitswirksame Straftaten zu begehen (zB psychisch Kranke wie politisch oder religiös Radikalisierte), dazu getriggert, ähnliches zu begehen, um mit ihrer Tat ähnliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Es kann eine regelrechte Mode entstehen. Das passierte um 2009/2010 herum etwa mit den Amokläufen bzw. Massakern an Schulen, bei denen selbst seriöse Medien sich an der Verbreitung des (negativen) Heldenstatus der Täterpersonen beteiligten. Von der Verantwortung der Medien, die fast alle Kriminolog-inn-en sahen, wurde aber abgelenkt, indem man etwa auf die (angebliche) Relevanz der Computerspiele abstellte. Derzeit gibt es offenbar eine „Mode“, mit Kraftfahrzeugen in Menschenmengen zu fahren. Das geschieht immer noch relativ selten, aber wenn es sich mit einem Wahlkampfthema verbinden lässt (weil die Tat jemand begangen hat, der nicht von deutschen Eltern abstammt), übertreffen sich die Medien mit Nachrichten. Das macht solche Taten für Nachahmungstäter besonders attraktiv.

Kann eine Häufung von Angriffen im öffentlichen Raum das Verhalten der Menschen verändern? Durch welche Maßnahmen kann das Vertrauen in öffentliche Plätze wiederhergestellt werden?

Das Verhalten „der Menschen“ wird nicht von Angriffen selbst beeinflusst, sondern von der Berichterstattung. Selbst eine reale „Häufung“ an bestimmten Stellen wird von den meisten Menschen ja nicht direkt wahrgenommen, sondern erst durch die Berichterstattung. Berichterstattung wird aber oft erst durch polizeiliche Maßnahmen ausgelöst, die dazu bestimmt sind, das Problem zu beseitigen. Beispiel: Menschen werden in einem bestimmten Stadtviertel/Straße gehäuft bedroht/angegriffen/verletzt und erstatten Strafanzeige. Polizei stellt fest, dass an dieser bestimmten Stelle mehr Anzeigen als anderswo erstattet werden. Sie macht dort mehr Kontrollen oder es werden Videokameras aufgestellt. Journalist-innen fällt dies auf und sie berichten darüber. Dies lesen oder hören viele Menschen (auch die, die an dieser Stelle nie waren bzw. nie eigene Erfahrungen dort gemacht haben) und haben dann ein schlechteres Sicherheitsgefühl an dieser Stelle oder meiden künftig diesen Ort (Vermeidungsverhalten). Durch die polizeilichen Maßnahmen und das Vermeidungsverhalten geht die objektive Gefährdung zurück, das Sicherheitsgefühl bleibt aber langfristig negativ beeinflusst. Über eine Verbesserung der objektiven Lage wird weniger berichtet, da solche Berichterstattung sich schlecht verkaufen lässt. Es ist ohnehin schwierig, einen einmal begründeten schlechten Ruf wieder zu korrigieren. Deshalb ist es äußerst schwer, „Vertrauen“ wieder herzustellen, auch für die Polizei. Offene polizeiliche Maßnahmen sind zwar objektiv hilfreich Taten zu verhindern, aber sie beeinflussen trotzdem das Sicherheitsgefühl eher im negativen Sinne, da sie zB die Aufmerksamkeit auf solche Stellen und die dort begangenen Taten lenken.

Wenn sich Unsicherheitsgefühle verfestigen, welche langfristigen gesellschaftlichen Folgen können sich ergeben? Begünstigt dies etwa soziale Spaltung oder eine verstärkten Ruf nach weiteren Sicherheitsmaßnahmen?

Die Debatte gibt es seit ich Kriminologie betreibe (ca. 45 Jahre). Bisher hat sich das nicht verfestigt und ich konnte mich letztlich immer darauf verlassen, dass mein Optimismus berechtigt war. Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt, nach wie vor, trotz aller „Bemühungen“ der Medien (auch der seriösen), die Sicherheitslage schlecht darzustellen.

Aber auch ich bin etwas pessimistischer heute, nicht was die Häufigkeit der Kriminalität angeht, aber was die anderen Einflüsse sind, die das Sicherheitsgefühl beeinträchtigen (siehe oben). Derzeit sind wir von so großen Zukunftsproblemen betroffen, dass für viele Menschen unklar ist, ob die etablierte Politik dies lösen kann. Die einfachen Lösungen, die seitens der Politik versprochen werden (Überwachung, höhere Strafen, Abschiebungen etc.), werden das Sicherheitsgefühl m.E. nicht zum Positiven verändern. Mittlerweile sind auch zu viele Akteure interessiert daran, dass sich Menschen (langfristig) unsicher fühlen, damit sie ihre „Lösungen“ verkaufen können. Die Tendenz geht derzeit zu den Rändern. Soziale Spaltung gab es immer schon, aber sie wird heutzutage noch durch soziale Medien verschärft, bei denen die Tendenz zu Streit/Aufregung/Radikalisierung durch Algorithmen zusätzlich künstlich gefördert wird.

8 Gedanken zu „Kriminalität und Sicherheitsgefühl“
  1. Interessant, wie die subjektive Wahrnehmung von Sicherheit und objektive Kriminalitätsdaten zusammenhängen. Wie sieht deine Einschätzung zu den Vorwürfen gegen die Klimaaktivisten aus?

  2. Das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung wird m.E. nicht im Geringsten von der Kriminalstatistik und der objektiven Sicherheitslage bestimmt. Kaum jemand in der Bevölkerung liest die Kriminalstatistik. Das erfordert auch einiges an Wissen, Einarbeitung, Beschäftigung und Zeit, um Schlüsse daraus zu ziehen. Außerdem beschreibt sie genaugenommen die allgemeine Sicherheitslage aus der Vergangenheit. Sicherlich kann man auch die Einschätzung der Gegenwart bedingt an ihr ausrichten. Aber die allgemeine Sicherheitslage ist grundsätzlich dafür nicht geeignet, konkrete Schlüsse für eine konkrete Situation und für das konkrete Risiko zu ziehen, Opfer einer Straftat zu werden. Ich denke, auch Kriminologen werden ihr persönliches Sicherheitsgefühl nicht an der Kriminalstatistik ausrichten.

    Das Sicherheitsgefühl ist vor allem ein Gefühl und als Gefühl schon der objektiven Rationalität wohl nur sehr beschränkt zugänglich. Es ist doch sehr individuell und subjektiv und von der eigenen Einschätzung der Sicherheitslage in einer konkreten Situation abhängig, die durch eigene Erfahrung, Beobachtung, glaubhaftes Hörensagen, Selbst- und Fremdeinschätzung bestimmt wird.

    Ich denke, dass das Sicherheitsgefühl von Menschen in der Großstadt anders geprägt sein wird, als von Menschen auf dem Land. Zum einen weil auf dem Land jeder jeden kennt. Zum anderen, weil man auf dem Land in viele Situationen gar nicht kommt, die eine Großstadt mit sich bringt. Auf dem Land werden Frauen z.B. kaum Angst haben, nachts die ÖNVM zu benutzen, weil es sie nachts auf dem Land einfach nicht gibt. Zudem ist die Solidargemeinschaft auf dem Land in der Regel stärker ausgeprägt und vermittelt ein stärkeres Sicherheitsgefühl. Das Gefühl der Unsicherheit wird auch häufig mit Situationen aus der Großstadt beschrieben (z.B. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/sicherheitsgefuehl-umfrage-kriminalitaet-statistik-gewalt-wahlkampf-100.html). Wenn ich aber bedenke, dass 70 Prozent der Einwohner Deutschlands nicht in Großstädten leben, sondern in kleineren Städten und Gemeinden, dann bin ich skeptisch, ob das Gefühl der Unsicherheit wirklich auf die Allgemeinheit zutrifft. Solche Aussagen können aber politisch motiviert sein, um den Eindruck zu vermitteln, es sei an der Zeit, dass einer hart durchgreift. Und wenn es um das allgemeine Sicherheitsgefühl geht, dann geraten Migranten häufig zuerst in den Fokus.

    1. Danke für Ihren Kommentar, Herr Kolos, der den Unterscheid zwischen Land und Stadt noch einmal besonders betont. Selbst wenn es in ländlichen Regionen ebenfalls zu (leichten bis mittleren) Straftaten kommt, verbleiben die wohl noch häufiger im Dunkelfeld als in der Stadt, weil „man sich kennt“ und daher die Angelegenheit eher untereinander ausmacht als den Nachbarn bzw. dessen Familie mit einer Strafanzeige zu belasten. Die Polizei hinzuzuziehen bedeutet ja meist, dass Täter und Opfer (oft einschl. der Familien) in der jeweilgen Gemeinde nicht mehr weiter wohnen bleiben können, hat also viel größere Folgen als eine Strafanzeige in der Stadt. Durch die Übersichtlichkeit udn das „sich kennen“ ist auch das allg. Sicherheitsgefühl viel weniger betroffen von (kriminellen) Vorgängen in der jeweiligen Gemeinde.

  3. Die Diskussionen rund um objektive Kriminalität und das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung sind wichtig, um die aktuelle gesellschaftliche Situation besser zu verstehen. Die Anklage gegen die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ zeigt, wie komplex die rechtliche Bewertung von Protestaktionen sein kann. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Verbreitung von Fehlinformationen, beispielsweise auf Plattformen wie X, die öffentliche Meinung beeinflussen kann. Die Stellungnahme der Kollegen aus der Strafrechtswissenschaft unterstreicht die Notwendigkeit einer sachlichen Diskussion. Wie können wir sicherstellen, dass emotionale Debatten nicht die Fakten überlagern?

  4. Interessant könnte aber auch das persönliche Sicherheitsgefühl von Personen sein, die beruflich besonderen Gefahrenlagen regelmäßig ausgesetzt sind, wie z.B. Polizisten im Streifendienst, in Stadt und auf dem Land.

    Nach meiner Einschätzung dürfte ihr Sicherheitsgefühl auf dem Land deutlich weniger belastet sein.

  5. Interessante Analyse zum Zusammenhang zwischen objektiver Kriminalität und subjektivem Sicherheitsgefühl. Es ist faszinierend, wie stark unsere Wahrnehmung von Risiken durch Medien und persönliche Nähe beeinflusst wird. Die Aussage, dass das Risiko durch nahestehende Personen unterschätzt wird, ist besonders bemerkenswert und regt zum Nachdenken an. Die Rolle der Medien bei der Verzerrung der Kriminalitätswahrnehmung wird hier klar herausgestellt – je spektakulärer das Ereignis, desto größer die Berichterstattung. Aber wie kann man diese Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität verringern? Sollten Medien mehr Verantwortung übernehmen, um ein ausgewogeneres Bild zu vermitteln? Und wie können wir selbst unsere Einschätzung von Risiken verbessern, um weniger von Ängsten geleitet zu werden?

  6. Sehr interessanter Text! Die Unterscheidung zwischen objektiver Kriminalität und subjektivem Sicherheitsgefühl ist wirklich spannend. Es ist erstaunlich, wie stark unsere Wahrnehmung von Risiken durch Medien und persönliche Nähe beeinflusst wird. Die Tatsache, dass wir statistische Bedrohungen oft falsch einschätzen, zeigt, wie wichtig eine sachliche Aufklärung ist. Die Überbetonung seltener Kriminalfälle in den Medien verstärkt diese Fehleinschätzungen noch. Ich frage mich, wie man dieses Problem effektiv angehen könnte, um die öffentliche Wahrnehmung realistischer zu gestalten. Was denkst du, welche Rolle sollten Bildung und Medien dabei spielen?

  7. Sehr interessanter Text! Es ist faszinierend, wie stark unsere Wahrnehmung von Kriminalität von subjektiven Faktoren und medialer Berichterstattung beeinflusst wird. Die Aussage, dass wir Risiken, die uns näher sind, tendenziell unterschätzen, finde ich besonders bemerkenswert. Es wirft die Frage auf, wie wir unsere eigene Sicherheit realistischer einschätzen können. Die Erwähnung des Dunkelfelds in der Kriminalstatistik zeigt zudem, wie komplex die Erfassung von Kriminalität ist. Ich frage mich, ob es Möglichkeiten gibt, diese Lücken zu schließen und objektivere Daten zu erhalten. Was denkst du, wie wir als Gesellschaft ein ausgewogeneres Bild von Kriminalität und Sicherheit vermitteln können?

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