Stellungnahme von (mittlerweile) 60 Kolleginnen und Kollegen aus Strafrechtswissenschaft und Kriminologie:
Die aktuelle gesellschaftliche Debatte über Taten wie die Tötung zweier Menschen und Verletzung
zweier weiterer Menschen in Aschaffenburg ist verständlicherweise emotional aufgeladen. Jedes
Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen ist nachvollziehbar und wird von uns geteilt.
Als Strafrechtswissenschaftler:innen sehen wir uns verpflichtet, darauf hinzuweisen, dass die Debatte
aber darüber hinaus von populistischen Instrumentalisierungen und verzerrten medialen Darstellungen
geprägt ist. Statt evidenzbasierter Erkenntnisse dominieren derzeit emotionale Reaktionen
und politische Reflexe. Ein sachlicher, wissenschaftlich fundierter Umgang mit Kriminalität ist
jedoch essenziell, um wirksame, nachhaltige und verfassungskonforme Lösungen zu entwickeln.
Beispielsweise zeigt die Forschung, dass soziale Integration eine der wichtigsten Präventivmaßnahmen
gegen Kriminalität ist. Dennoch wird als Reaktion auf die Tat in Aschaffenburg aktuell der
Familiennachzug für Geflüchtete infrage gestellt, obwohl dies Vereinsamung und soziale Instabilität
verstärken kann, was wiederum das Risiko von Kriminalität erhöhen könnte. Über Herausforderungen
bei Integration und Kapazitäten muss im ausländerrechtlichen Kontext diskutiert werden,
die wahren Probleme benannt und damit Lösungen erreichbar gemacht werden. Eine Verknüpfung
mit Straftaten dagegen erschwert an dieser Stelle eine rationale Auseinandersetzung.
Als weiteres Beispiel für problematische Forderungen sei die genannt, Personen mit Aufenthaltsberechtigung
nach der Begehung von zwei Straftaten abzuschieben – selbst wenn es sich dabei um
Bagatelldelikte wie das Schwarzfahren nach § 265a StGB handelt. Nicht nur ist etwa die Strafwürdigkeit
dieser und anderer vergleichbarer Delikte ohnehin bereits umstritten, eine derartige Form
der Sanktionierung ist auch mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fragwürdig.
Weiterhin sei darauf hingewiesen, dass Kriminalstatistiken oft unsachgemäß genutzt werden. Ein
häufiges Problem ist die Gleichsetzung registrierter Straftaten mit der tatsächlichen Kriminalitätsentwicklung.
Polizeiliche Kontrollmechanismen und veränderte Anzeigebereitschaft, aber auch andere
Faktoren, beeinflussen die Zahlen oft stärker als eine reale Zunahme der Kriminalität oder
eine subjektive Wahrnehmung von Kriminalität, gerade auch mit Blick auf die Medienberichterstattung
und die Debatten in den sozialen Medien. Selektiv ist oft die Darstellung bestimmter Delikts-
und Personengruppen, wie es sich in der derzeitigen Debatte spiegelt. Kriminalität ist aber
keine Folge der Staatsangehörigkeit.
Eine sachgerechte Analyse muss kontextbezogen sein, und die Suche nach Lösungen bedarf auch
immer einer evidenzbasierten Ursachenforschung.
Wir fordern deshalb eine durch Rationalität und Evidenz geprägte Kriminalpolitik. Die Debatte
sollte sich von populistischen Verzerrungen lösen und wissenschaftliche Erkenntnisse einbeziehen.
Dazu gehören:

  1. Eine rationale, empiriebasierte Analyse
  2. Ein sachlicher Umgang mit Kriminalstatistiken
  3. Die Berücksichtigung kriminologischer Erkenntnisse bei Gesetzesvorhaben
  4. Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit im Strafrecht
  5. Die Trennung von Straf- und Aufenthaltsrecht

Eine evidenzbasierte, verfassungskonforme Kriminalpolitik ist unabdingbar, um sowohl Sicherheit
als auch Rechtsstaatlichkeit nachhaltig zu gewährleisten.

Unterschrieben von:

Prof. Dr. iur. Dipl.Psych. Stefanie Kemme, Universität Münster
Prof. Dr. Jörg Kinzig, Universität Tübingen
Prof. Dr. Florian Knauer, Universität Jena
Prof. Dr. Ralf Kölbel, Universität München
Prof. Dr. Dr. Milan Kuhli, Universität Hamburg
Ass. iur. Lubahn Greppler, Celina S., Doktorandin, Universität zu Köln
Prof.’in Dr. Grischa Merkel, Universität Greifswald
Prof. Dr. Carsten Momsen, Freie Universität Berlin
Prof.’in Dr. Christine Morgenstern, Universität Bochum
Prof. Dr. Henning Müller, Universität Regensburg
Prof. Dr. Frank Neubacher, M.A., Universität zu Köln
Prof. ’in Dr. Laura Neumann, Universität Mannheim
Prof.’in Dr. Bettina Noltenius, Universität Passau
Dr. Maximilian Nussbaum, Universität Hannover
Prof. Dr. Erol Pohlreich, Universität Frankfurt a.d.O.
Prof. Dr. Dr. h.c. Cornelius Prittwitz, Universität Frankfurt a.M.
Prof. Dr. Jens Puschke, Universität Marburg
Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Universität Halle-Wittenberg
Dr. Yann Romund, Universität Hannover
Prof. Dr. Henning Rosenau, Universität Halle-Wittenberg
Prof.’in Dr. Anja Schiemann, Universität zu Köln
Prof.’in Dr. Charlotte Schmitt-Leonardy, Universität Bielefeld
Dr. Leonie Schmitz, Universität zu Köln
Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Universität Frankfurt a.M.
Jun.-Prof.’in Dr. Lucia Sommerer, Universität Halle
PD’in Dr. Georgia Stefanopoulou, Universitäten Hannover / Leipzig
Prof. Dr. Georg Steinberg, Universität Potsdam
Jun.-Prof.’in Dr. Leonie Steinl, LL.M., Universität Münster
Prof.’in Dr. Sabine Swoboda, Universität Bochum
Prof. Dr. Markus Wagner, Universität Bonn
Jun.-Prof. Dr. Kilian Wegner, Universität Frankfurt a.d.O.
Ass. iur. Timotheus Winterstein, Doktorand, Universität zu Köln
Appl.-Prof. Dr. Petra Wittig, Rechtsanwältin
Prof. Dr. Gina Rosa Wollinger, HSPV Nordrhein-Westfalen
Prof.’in Dr. Liane Wörner, LL.M. Universität Konstanz
Universitätslehrer Dr. Benno Zabel, Universität Frankfurt a.M.
Prof. Dr. Sascha Ziemann, Universität Hannover
Prof. Dr. Frank Zimmermann, Universität Freiburg
Prof. Dr. Till Zimmermann, Universität Düsseldorf

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