Anlässlich der Anklage der Münchener Generalstaatsanwaltschaft gegen Klimaaktivisten der „Letzten Generation“, denen u.a. die Bildung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB vorgeworfen wird, wurde ich nach meiner Meinung dazu befragt. Ich möchte hier meine Antworten dokumentieren, die Originalfragen des Journalisten habe ich etwas umformuliert.
1. Was sind die juristischen Voraussetzungen für eine „kriminelle Vereinigung“ im Sinne des § 129 StGB?
Eine kriminelle Vereinigung ist ein Zusammenschluss von (mind. drei) Personen zum Zwecke der Begehung von (nicht ganz leichten) Straftaten, lt. Tatbestand müssen diese Straftaten in der Höchststrafandrohung mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe nach sich ziehen. Dies ist etwa bei § 240 StGB (Höchststrafdrohung 3 Jahre) erfüllt.
2. Ist die Anwendung von § 129 StGB im Fall der Letzten Generation strafrechtlich legitim?
Es muss für die Vereinigung ein konkreter Organisationsgrad und Dauerhaftigkeit nachgewiesen werden, und mit der Organisation ein „übergeordnetes gemeinsames Interesse“ verfolgt werden. Dieses gemeinsame Interesse ist nicht identisch mit den dazu begangenen Straftaten und kann (neben etwa den von anderen kriminellen Organisationen verfolgten Bereicherungsinteressen) insbesondere auch ein gemeinsames politisches Ziel sein. Nach dem Wortlaut der Norm wird zwischen verschiedenen Zielsetzungen nicht weiter differenziert. Rein nach dem Wortlaut des § 129 StGB lässt sich die daher die „Letzte Generation“ darunter subsumieren, obwohl sie wohl weder nach ihren unmittelbaren noch nach den klimapolitischen Fernziel kriminologisch als „Organisierte Kriminalität“ bezeichnet werden sollte, für den dieser Tatbestand eigentlich vorgesehen ist.
3. Wo ist Ihrer Ansicht nach zwischen zivilgesellschaftlichem Protest und strafbarer Organisationsform zu differenzieren?
Meiner Auffassung nach sollte § 129 StGB, soweit politische Fernziele der verdächtigten Organisation betroffen sind, auf „extremistische“ Bestrebungen begrenzt werden, d.h. auf solche, die die demokratisch-rechtsstaatliche Struktur der Bundesrepublik Deutschland angreifen bzw. gefährden. Diese einschränkende Interpretation fand auch bislang in der Rechtsprechung einen gewissen Ausdruck, d.h. es wurde v.a. auf „gesellschaftsgefährdende“ Ziele abgestellt. Eine Vereinigung, die auf strafbare Weise (hier: § 240 StGB) auf innerhalb der Demokratie zu verwirklichende politische Ziele hinwirken will (Klimablockaden, Traktorblockaden), sollte m.E. vom Tatbestand des § 129 StGB nicht erfasst werden.
4. In welchen ähnlichen Fällen wurde § 129 StGB gegen politische Gruppierungen angewendet? Wie wurde entschieden?
Es wurden bereits rechtsextremistische Kameradschaften und Gruppen („Nationale Offensive“), Hooligan-Gruppen und auch linksextremistische wegen Brandanschlägen verdächtigte („autonome“) Gruppierungen als kriminelle Vereinigungen verfolgt. Allerdings waren sowohl die Straftaten als auch die politischen Ziele hier meist schwerwiegender als im Falle der Letzten Generation.
Mitglieder der rechtsextremistischen Musikgruppe „Landser“, die aus dem Untergrund volksverhetzende Musikstücke hergestellt und in Deutschland verbreitet hatten, wurden 2003 wegen § 129 StGB verurteilt. In der Diskussion und in den Instanzen um diesen Fall wurde u.a. thematisiert, ob das gemeinsame (politische) Ziel „gesellschaftsgefährdend“ sein müsse, was bejaht wurde.
Die „Nationale Offensive“ hatte in NRW v.a. volksverhetzende Parolen gesprüht und Plakate geklebt. Das OLG Düsseldorf bestätigte auf Beschwerde der Staatsanwaltschaft die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung.
5. Hat die Anklage gegen die Letzte Generation Bedeutung über den vorliegenden Fall hinaus für den rechtsstaatlichen Umgang mit solchen Protestformen?
Für das Vertrauen in den Rechtssaat äußerst heikel wäre es, wenn die Generalstaatsanwaltschaften (geführt vom jeweiligen Justizministerium) instrumentalisiert würden, um politische Gegner zu kriminalisieren, während gleichzeitig politische „Freunde“ verschont bleiben. Aktuell ist dies deshalb zu befürchten, weil die von der Union geplante Straferhöhung für intensive Protest-Straßenblockaden laut Aussagen führender Unionspolitiker nur für die Klimaaktivisten gelten soll, nicht aber für Bauernprotestblockaden mit Traktoren. Eine Strafverfolgung je nach politischer Haltung der Regierenden ist in einem demokratischen Rechtsstaat selbstverständlich unzulässig. Strafrechtlich darf in der Verfolgungsintensität nicht unterschieden werden zwischen der Politik genehmen und unangenehmen politischen Fernzielen, sofern sich diese noch im Rahmen der Verfassung bewegen. Sollte (insbesondere in Bayern) gegen die Organisatoren der Bauernproteste im Jahr 2024 nicht ebenso streng ermittelt werden wie gegen die Aktivisten der Letzten Generation, hätte dies daher ein „Geschmäckle“. Das ändert nichts daran, dass strafbare Protestformen im Einzelfall verfolgt werden sollten, nur eben meiner Auffassung nach nicht als Bildung „krimineller Vereinigungen“, wenn deren politische Ziele nicht extremistisch sind.
6. Kann mit einer grundsätzliche Klärung durch die Gerichte gerechnet werden, was die Reichweite und die Grenzen von § 129 StGB bei Protestbewegungen betrifft?
Ich hoffe, dass die Gerichte zu einer klaren Linie gelangen, und bei nicht-extremistischer bzw. nicht demokratiefeindlicher Zielsetzung die Anwendung des § 129 StGB verneinen. Das gilt dann für alle politischen Lager innerhalb des demokratischen Spektrums.
Ergänzend möchte ich zustimmend auf die Aspekte hinweisen, die sehr lesenswert im Verfassungsblog von Matthias Jahn und Fynn Wenglarsczyk schon bei der Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen gegen die Letzte Generation angemerkt wurden (verfassungsblog.de Der Blinde Fleck). Dabei geht es um den möglichen „Chilling Effekt“ den solche Strafverfahren und Bezeichnungen („kriminell“) gegenüber politischen Bewegungen ausüben können. Auch dies sind Argumente dafür, Gruppierungen mit nicht-extremistischen politischen Zielsetzungen aus dem Tatbestand des § 129 StGB auszuschließen.
Wenn Unternehmen Umweltstraftaten begehen, um z.B. Kosten zu sparen, dann werden sie dadurch auch nicht zur kriminellen Vereinigungen. Denn das ändert nichts an dem unternehmerische Zweck, der weiterhin legal bleibt und nicht in der Begehung von Straftaten besteht. Auch bei dem Dieselskandal ist niemand auf den Gedanken gekommen, VW sei eine kriminelle Organisation. Ähnlich verhält es sich bei der Letzten Generation. Ihr Zweck ist der Appell an die Dringlichkeit von Maßnahmen gegen den Klimawandel, der legal ist. Begehen sie dabei Straftaten, dann ändert das doch nichts an dem verfolgten Zweck der Organisation. Ähnliches gilt auch für die Bauernverbände.
Lesenswert ist auch der Beitrag von Prof. Dr. Martin Heger und Dr. Lukas Huthmann „`Diskussion um § 129 StGB: Braucht Deutschland einen eigenen Tatbestand für schwerkriminelle Vereinigungen? – ein rechtspolitischer Vorschlag“‚, in dem es im Wesentlichen um erneut dringende reformbedürftigkeit des § 129 geht. „`Kurz zusammengefasst sieht der im Folgenden in Grundzügen vorgestellte Vorschlag vor, den derzeitigen § 129 StGB in zwei Tatbestände, einen Grundtatbestand (§ 129 StGB n.F.) und einen Qualifikationstatbestand § 129b StGB n.F. (Bildung einer schwerkriminellen Vereinigung), aufzusplitten. Der derzeitige § 129a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) bleibt bestehen. […] Letztere Anpassungen müssen auch in den Vorschriften der StPO erfolgen, die nicht mehr § 129 StGB n.F., sondern nur noch die §§ 129a und 129b StGB (jeweils in ihren neuen Fassungen und ggf. in Verbindung mit § 129c StGB n.F.) als Katalogtaten nennen sollten […] Dementsprechend müsste tatbestandlich eine Abgrenzung zum Grundtatbestand von § 129 StGB n.F. dahingehend erfolgen, dass der Zweck oder die Tätigkeit der Vereinigungen auf die Begehung von Delikten gerichtet ist, für die eine höhere Straferwartung als zwei Jahre Freiheitsstrafe im Höchstmaß besteht. Eine Möglichkeit wäre hierfür, die Mindesthöchststrafe auf fünf Jahre zu erhöhen. Eine andere bestünde darin, einen Katalog von Straftaten zu formulieren, in dem typische schwerer wiegende Taten organisierter Kriminalität wie Mord, Totschlag, Schutzgelderpressungen oder Geldwäsche aufgeführt werden.“‚.
https://kripoz.de/2023/07/18/diskussion-um-%C2%A7-129-stgb-braucht-deutschland-einen-eigenen-tatbestand-fuer-schwerkriminelle-vereinigungen-ein-rechtspolitischer-vorschlag/
Gegen den Reformvorschlag könnte man aber einwenden, dass die bestehende Zugehörigkeit des § 129 StGB zu den Katalogtaten dazu dienen kann, die unter die Vorschrift fallende Straftaten der Organisation deutlich einzugrenzen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes soll der Zweck oder die Tätigkeit der Vereinigungen auf die Begehung von Delikten gerichtet sein, für die eine höhere Straferwartung als zwei Jahre Freiheitsstrafe im Höchstmaß besteht. Das geht aber auch nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers zu weit. Deswegen soll über die Strafandrohung hinaus verlangt werden, dass diese Straftaten mit den typischen Katalogtaten vergleichbar sind. Dazu wörtlich aus BT Drucksache 18/11275, Seite 10 (letzter Absatz):
„`Aus dem Schutzzweck der Norm, dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und der Bedeutung von § 129 StGB als Katalogtat für bestimmte strafprozessuale Möglichkeiten folgt darüber hinaus, dass die von der Vereinigung geplanten oder begangenen Straftaten eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedeuten und unter diesem Gesichtspunkt von einigem Gewicht sein müssen (so LK-Krauß, 12. Auflage, § 129 Rn. 58 unter Berufung auf die Rechtsprechung
zu dem bisherigen § 129 StGB und m. w. N.).“‚
Im Ergebnis ist also der Reformvorschlag auch ohne Reformierung erreichbar. Es bedarf nur einer restriktiven Auslegung der bestehenden Norm unter Beachtung des Schutzzwecks der Norm, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und des Willen des Gesetzgebers.