In Magdeburg begann heute in einem eigens errichteten Gerichtsaal mit 700 Plätzen der Prozess gegen den Weihnachtsmarkt-Attentäter von Magdeburg.
Der MDR berichtete per Live-Ticker:
Dem Angeklagten wird Mord in sechs Fällen, versuchter Mord in 338 Fällen und gefährliche Körperverletzung in 309 Fällen vorgeworfen.
Die Frage, die ich in diesem Blog am 23. Dezember 2024, wenige Tage nach der Tat, diskutiert habe, ist immer noch offen: Politischer Terror oder individueller Amok? Die Bundesanwaltschaft hat die Frage, ob es ein Terroranschlag war, verneint und die Ermittlungen der Magdeburger Staatsanwaltschaft überlassen. Die für die Anklage zuständige Staatsanwaltschaft und das zuständige Gericht sind damit nicht die für schwere politische Angriffe auf den Staat spezialisierte Justizbehörden (GBA und OLG-Staatsschutzsenat), sondern eine Strafkammer des LG Magdeburg, die für nicht politische vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig ist.
Diese Zuständigkeit wurde im Oktober erneut vom Generalbundesanwalt (GBA) bestätigt:
„Die Bundesanwaltschaft wird das Verfahren gegen den Attentäter vom Magdeburger Weihnachtsmarkt auch nach erneuter Prüfung nicht übernehmen. Ein Sprecher sagte am Montag, es gebe keinen Staatsschutzbezug. Man gehe weiter davon aus, dass der Beschuldigte aus persönlicher Frustration gehandelt habe.“ MDR
Die prozessrechtliche Entscheidung macht aber die inhaltliche Frage nicht obsolet, ob eine primär politisch motivierte Tat vorliegt („Terrorismus“) oder eine primär individuell persönlichkeitsbezogene Motivation gegeben war („Amok“). Die Strafkammer kann im Prozess durchaus zum Ergebnis kommen, dass eine politische Motivation vorgelegen hat oder gar maßgeblich war.
Ein Gutachten, das im Sommer vorgelegt wurde, kommt wohl zum Ergebnis, es handele sich bei dem Attentat nach allen gängigen Definitionen und phänomenologischen Faktoren um einen terroristischen Akt. Der Gutachter ist Hans Goldenbaum, ein Islam- und Sozialwissenschaftler, der im SALAM arbeitet, einer Institution, die in Sachsen-Anhalt, insbesondere an Schulen, Anti-Radikalisierungsarbeit leistet. Auf deren Seite findet sich auch das Transkript eines Interviews, das Goldenbaum dem MDR gegeben hat.
Ein Ausschnitt:
„MDR Aktuell: Wie würden Sie das Weltbild des Mannes beschreiben?
Goldenbaum: „Ganz klassisch. Es gibt sicherlich einige besondere Elemente aufgrund der Biografie. Aber im Kern hat er Ideologeme dieser globalen digitalen Vergemeinschaftung im Bereich des Rechtsextremismus geteilt: der angebliche sogenannte große Austausch, die angebliche Islamisierung, andere Elemente der klassischen Verschwörungsideologie, und dass man annimmt, alles sei gesteuert. Presse sei gesteuert, politisches Handeln. Das sind so Chiffren in diesem Milieu. Und wir sehen bei ihm stark und über Jahre hinweg, wie er an diesem Diskurs, an dieser digitalen Vergemeinschaftung teilgenommen hat, wie er diese Inhalte übernommen hat, bei X, ehemals Twitter, retweetet, aber auch eigene Inhalte beigesteuert hat – insbesondere im Kontext antiislamischer Agitation.
MDR Aktuell: Wie gut war der Mann vernetzt?
Goldenbaum: Was sicherlich nicht stimmt ist, dass er konkret, analog, stark vernetzt wäre. Also er war offenbar Unterstützer, Sympathisant der AfD, aber dass er sich mit den Leuten getroffen hat, das denke ich nicht. Das wäre auch unwahrscheinlich von der Täterstruktur her. Was man aber sagen kann ist, dass er im digitalen Raum sehr wohl stark vernetzt war. Und das ist ein Phänomen, das wir in den letzten Jahren zunehmend beobachten, weshalb wir in allen extremistischen terroristischen Gewaltformen eine stärkere Einzeltäterproblematik haben. Dass Menschen online eine Gemeinschaft finden, die sie bestätigt, an deren Diskursen sie partizipieren können, wo sie teilweise auf Menschen stoßen, die sie unmittelbar zur Tat motivieren und wo sie dann aufgrund von individuellen Faktoren irgendwann zur Tat schreiten. In diesen digitalen Räumen dichten sie sich, genau wie beim Tatverdächtigen jetzt in Magdeburg, mehr und mehr gegen Einflüsse von außen ab, gegen andere Informationen. Dort kommen auch andere Akteure ins Spiel, auch rechtsextreme Akteure, auch Akteure aus der AfD.“
Schon unmittelbar nach der Tat hat Hans Goldenbaum dem Fernsehsender Phoenix ein Interview gegeben und über ähnliche Feststellungen berichtet.
Wie gesagt, das Gericht wird dies bei seiner Aufklärung und Entscheidungsfindung berücksichtigen (müssen). Auf die Strafzumessung muss dies (im Falle der Schuldfähigkeit) zwar keinen Einfluss haben, aber zumindest für künftige Fälle wird der GBA genau zuhören.
Ohne das Gutachten im Detail zu kennen, tendiere ich im Moment zu der Ansicht, dass die Bundesanwaltschaft einer Fehleinschätzung unterlegen ist. Die Vorstellung, bei den Staat angreifenden Terroristen handele es sich um Gruppierungen ähnlich der RAF oder der Wehrsportgruppe Hoffmann, aber nicht um radikalisierte, möglicherweise auch psychisch gestörte Einzeltäter, ist seit mindestens zwei Jahrzehnten überholt. Das weiß auch Bundesanwaltschaft, denn im Fall des rechtsextremen Einzel-Attentäters von Halle hat der GBA 2020 die Ermittlungen übernommen und vor dem OLG Naumburg (Staatsschutzsenat) angeklagt. Damals wurde die Anklage so begründet (2020):
„Stephan B. plante aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus einen Mordanschlag auf Mitbürgerinnen und Mitbürger jüdischen Glaubens.“
Dass Stephan B. als Einzeltäter agierte und sich wohl überwiegend im Internet selbst radikalisiert hatte, hat die Einschätzung des GBA, es handele sich um (Rechts-)Terrorismus, nicht gehindert. Und auch die laut Sachverständigem Leygraf berichtete psychische Konstitution hat (zutreffend!) nichts an der Einschätzung des GBA verändert. Der Magdeburg-Attentäter Stephan B. wurde zwar vom Sachverständigen als „voll schuldfähig“ eingestuft, aber durchaus als gestört:
Der Attentäter von Magdeburg hat sich – wie sich aus seinen posts ergibt – seit Jahren politisch rechtsextrem radikalisiert, hat Verschwörungstheorien („großer Austausch“ und „geplante Islamisierung Europas“) vertreten und hat auch schon vor einiger Zeit einen Anschlag angekündigt. Dass er psychisch auffällig ist und dass er keiner terroristischen Organisation angehörte, ist für die Annahme, er habe (primär) aus unpolitischem individuellem Frust gehandelt, nicht relevant.
„Bei Stephan B. liege eine komplexe Persönlichkeitsstörung vor, die einer schweren seelischen Abartigkeit zuzuordnen sei, sagte der forensische Psychiater Norbert Leygraf am Dienstag vor dem Oberlandesgericht Naumburg, das aus Sicherheits- und Platzgründen im Magdeburger Landgericht verhandelt. Der Experte hält den Angeklagten aber für schuldfähig. B. habe nicht im Wahn gehandelt. Der Glaube an politische Verschwörungstheorien sei kein Ausdruck von krankhaftem Wahn.“
Politischer Terror und individualpsycho(patho)logischer Amok – das sind keine Gegensätze. Ich bin gespannt, welche Feststellungen das Magdeburger Gericht dazu treffen wird.
Update: Der Angeklagte hat sich am ersten Tag schon ca 45 MInuten lang geäußert. So berichtet der Liveticker des MDR darüber:
„Der 51-Jährige äußert sich kaum zur Tat, sondern verliert sich in langen Monologen über angebliche Vertuschungen der Polizei, Frauenrechte in Saudi-Arabien und politische Themen. Zwischendurch spricht er sogar über ein Katze. Immer wieder hält er seinen Laptop mit der Aufschrift „Sept. 2026″ in die Kameras, ein Verweis auf die nächste Landtagswahl in Sachsen-Anhalt.“
Hinweis: Ich bin an ForGeREx, einem bayerischen Forschungsverbund zum Rechtsextremismus, mit einem Teilprojekt zur Strafverfolgung rechtsextremer Gewaltkriminalität beteiligt.